Die mühsame Suche nach der Wahrheit. Aus der Arbeit einer forensischen Psychologin.

Auf der Spur des Täters 

Verbrechen aufzuklären beginnt mit Recherchen am Tatort, Auswertung von Beweisen und Indizien, Einsatz von Werkzeugen und Techniken durch das Kriminaltechnische Institut und die Rekonstruktion der Tat durch die forensische Wissenschaft.

Will die Krimiautorin Ursache, Begehungsweise und Aufklärung eines Schwerverbrechens realistisch darstellen, sieht auch sie sich umfangreicher Recherchearbeit ausgesetzt. Daher möchte ich mich mit dieser Artikelreihe einigen Fragen der Forensik widmen.

Beginnen möchte ich mit einer Psychologin, die sich spezialisiert hat auf Aussagen von Kindern und Jugendlichen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. 


Die mühsame Suche nach der Wahrheit

Im Institut für Forensische Psychiatrie gibt es keine Spielsachen, keine Plüschtiere, kein Blumenstrauß. Das Kind oder der junge Mensch, die am blanken Tisch gegenüber der Psychologin Platz nehmen, sie sollen sehen, dass hier nicht behandelt wird, sondern gearbeitet. Die forensische Gerichtsgutachterin ist keine Anwältin, sie begutachtet keine körperlichen und seelischen Schäden des Missbrauchs-Opfers, sie ist weder Ärztin noch Therapeutin.

Ihr Auftrag, den sie vom Gericht bekommen hat, lautet lapidar: „Es ist die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage zu untersuchen.“ Auf deutsch: Sagt das Kind die Wahrheit oder ist es eine Lüge? Manchmal hängt eine Verurteilung zu langjähriger Freiheitsstrafe von einer einzigen Aussage ab – der des Opfers.

Der Psychologin fällt es zuweilen schwer, sich nicht auf die Seite des Opfers zu schlagen. Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt prägen die Aussagen. Im Umfeld Mütter, die nicht erkennen wollen, was ihr Partner mit der minderjährigen Tochter treibt. Am Gutachtertisch Kinder, die sich auf der Straße herumtreiben und nicht vermisst werden. Blaue Flecken, blutige Striemen, die schamhaft mit Kleidung bedeckt werden. Auch wenn Schicksale sie berühren, muss die forensische Psychologin sachlich bleiben. Emotionalität ist kein guter Maßstab für die Erstellung ihres Gutachtens. 


Der Zugang zum Opfer 

Zu Beginn lässt die Psychologin den jungen Menschen erstmal erzählen. Wie geht’s, wie lebt das Opfer jetzt, hat es Freunde, Vertraute? Es ist häufig das erste Mal, dass sich jemand für seine Geschichte interessiert. Langsam wird übergeleitet zum eigentlichen Thema. Die Aussage auf dem schmalen Grat zwischen Misstrauen, Angst, Lüge, Scham und dem Willen zur Aufdeckung einer schweren Straftat. Manche Kinder erzählen bereitwillig von schlimmen Erlebnissen – in der Fachsprache wohlklingend „Trauma“ genannt. Die Kardinalfrage ist: Sagt das Kind die Wahrheit? Kann es Angrapschen, aufgedrängte Berührungen und Küsse, erzwungene Sexualpraktiken erfinden? Welche Motive gibt es, nicht die Wahrheit zu sagen, zu lügen? 


Die „Unwahrannahme“

Zunächst gilt psychologisch die sog. „Unwahrannahme“: Eine Aussage gilt als unwahr, so lange nicht alle anderen Erklärungen für eine falsche Beschuldigung ausgeschlossen werden können. Die „Unwahrannahme“ kann als Misstrauen gegenüber den Bekundungen eines Verbrechensopfers empfunden werden. Jedoch gilt die Zeugenaussage aufgrund der leichten Beeinflussbarkeit durch innere oder äußere Faktoren als unsicherer Beweis. 


Kriterien für die Wahrheit einer Aussage

Das Kind erzählt nicht historisch, sondern ungeordnet, gibt scheinbar unwesentlichen Details wieder, kann sich teilweise an den Wortlaut der Gespräche zwischen ihm und dem Täter erinnern, es kann Ereignisse schildern, selbst wenn es sie in ihrer Bedeutung nicht verstanden hat. Es gibt keine Wahrheitsbeteuerung, Gedächtnislücken werden zugegeben, zuweilen belastet das Kind sich sogar selbst oder übernimmt eine eingebildete Schuld. 

Manchmal hat auch ein Arzt typische Spuren eines Sexualdelikts festgestellt: Unterleibsverletzungen, Blutergüsse und Bisswunden im Genitalbereich sowie Geschlechtskrankheiten.

Lügner wollen dagegen, dass ihnen geglaubt wird. Erfundene Erlebnisse werden häufig kurz und schematisch dargestellt, die Schilderung ist abstrakt, erzeugt keine emotionale Wirkung. Auf Einzelheiten wird nicht eingegangen, auf Erinnerungslücken nicht hingewiesen. Dafür wird die Wahrheit des Geschilderten bekräftigt.

Auch wenn hiernach vieles für die Wahrheit der Aussage spricht, muss die forensische Psychologin letzte Zweifel ausräumen. Kann eine Aversion gegenüber dem Beschuldigten eine Rolle spielen, gibt es ein Rachemotiv, fühlt sich das Kind durch den neuen Freund der Mutter zurückgesetzt? 

Hat die forensische Gutachterin sich eine Meinung über den Wahrheitsgehalt der Aussage gebildet, schreibt sie ihr Gutachten. 


Das Opfer vor Gericht 

Jetzt kommt die größte emotionale Belastung – die Aussage vor Gericht. Kinder, Jugendliche, die jahrelang geschwiegen haben, müssen sich fragen lassen, warum sie sich nicht früher jemand anvertraut haben. Häufig gibt es nahestehende Personen, die Warnzeichen für Missbrauch erkannt haben oder sogar eingeweiht waren, ohne dass das Sexualverbrechen zur Anzeige gelangte. Die tragische „stille Post“. 

Auch Rückzieher sind nicht ungewöhnlich. Gegenüber dem Peiniger und seinem Verteidiger sitzend werden Vorwürfe wie erzwungene sexuelle Handlungen wieder zurückgenommen. Die Frage ist jetzt: Kann sich die jugendliche Zeugin wirklich nicht erinnern? Hat sie gegenüber der Gutachterin eine falsche Beschuldigung erhoben? Oder hat sie Angst angesichts des Täters?

Eine hochschwierige Situation für die Sachverständige angesichts des auftrumpfenden Angeklagten. Die forensische Psychologin weiß, dass Menschen sich manchmal aus psychischen Problemen unbewusst dahingehend retten, dass sie überzeugt sind, ihnen sei etwas angetan worden, obwohl es gar nicht oder nicht in der behaupteten Form passiert ist. 


Die „suggerierte“ Aussage 

Ein besonders schwieriges Kapitel sind die sog. „suggerierten“ Aussagen. Hier wird das Opfer von anderen, oft als Autoritäten empfundenen Menschen, etwa Sozialarbeiter*innen oder Polizist*innen, in seiner Aussage bestärkt. Angepasste, ängstliche Opfer neigen manchmal dazu, die „Erwartungen“ zu erfüllen, indem sie von Taten berichten, die nicht oder nicht in dieser Form geschehen sind. Sie lügen nicht bewusst, die Falschaussage wird ihnen von außen „suggeriert“.  Es ist eine äußerst problematische Situation für die Sachverständige, wenn sie einräumen muss, lediglich eine Vermutung zu liefern, jedoch keine unbedingte Wahrheit. Auch die forensische Psychologin zweifelt manchmal und stößt an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. 


Die Mehrzahl der Aussagen ist glaubhaft. 

Hat die Psychologin alle Umstände, die für eine unrichtige Aussage sprechen können,  beleuchtet und die Möglichkeit einer Falschaussage ausgeräumt, hat sie dem Opfer und auch dem Gericht einen großen Dienst erwiesen. Die Aussage ist glaubhaft. Die Unschuldsbeteuerungen des Täters erweisen sich als Schutzbehauptung. Das Gericht kann jetzt überzeugt seiner Aufgabe nachgehen: Es verurteilt den Täter zu einer Freiheitsstrafe. 

Aber leider ist das Dunkelfeld der Sexualdelikte, in dem es keine Aussage gibt, immer noch  viel zu hoch.

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