Im zweiten Teil ihres Artikels ‚Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett‘ beschäftigt sich Susanne Rüster mit dem Nerven-Kitzler –
Der (Psycho)Thriller
Was genau ist denn eigentlich ein Thriller? Und wo liegen die Grenzen zum Krimi? Gemeinsam ist beiden Genres der schwere Verstoß gegen die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens: Das Verbrechen. Hinzu kommen einander widersprechende Gedanken und Gefühle (Thrill), die unsichere Erwartung eines befürchteten oder erhofften Ereignisses (Suspense). Im Kriminalroman geschieht das Verbrechen meist zu Beginn des Romans oder es hat bereits stattgefunden. Die Aufklärung der Tat, die Motive und letztlich die Überführung des Täters stellen den Höhepunkt dar. Die Hauptfigur im Krimi ist der Ermittler. Er / Sie ist entweder ein Profi (Polizist/in, Kriminaltechniker/in, Rechtsmediziner/in, Privatdetektiv/in) oder eine Privatperson, die mit einem Mord konfrontiert wird und als kriminalistische/r Laie ermittelt.
Thriller-Leser/innen kennen demgegenüber häufig von Anfang an Täter/in und auch den Tathergang. Auch hier kann zu Beginn ein Delikt tatsächlich stattfinden, es ist aber kein Muss. Das wichtigste Thriller-Merkmal ist vielmehr eine ständige und zunehmende Bedrohung mit einem Verbrechen/einer Verschlimmerung der Situation. Der Held/die Heldin (Protagonist/in) muss alles daransetzen, die Tat oder die Katastrophe abzuwenden und gerät dabei oft selbst in Gefahr. Die Bedrohung ist das wichtigste Thriller-Merkmal und sie löst sich erst zum Ende beim Kampf gegen den/die Gegenspieler/in (Antagonist/in) auf. Die Gefahr muss nicht von einer einzelnen Person ausgehen. Häufig handelt es sich um eine Übermacht, die gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Ziele mit Gewalt durchsetzen will. Verwicklungen der Handelnden mit Institutionen stehen hier im Vordergrund, z.B. Terroranschläge, Attentate auf Politiker oder sonstige bekannte Personen, Verschwörungen, korrupte Deals. Allen Thrillern gemeinsam ist die nervenaufreibende Frage, ob der/die Protagonist/in es schafft, sich gegen moralische, seelische oder körperliche Gewalt zu behaupten und sich, und vielleicht auch andere, zu retten. Auch gibt es Thriller, in denen der Held/die Heldin beim Schlusskampf stirbt. Das Böse ist nicht besiegt.
Im Psychothriller steht die Psychologie von Täter/Täterin im Vordergrund. Der/die Täter/in ist oft psychisch krank. Häufig spielen auch emotionale Konflikte zwischen mehreren Personen eine tragende Rolle, zuweilen geht es auch um den Kampf mit sich selbst, etwa aufgrund traumatisierender Erlebnisse. Ermittler/in im Psychothriller kann ein Profi oder – häufiger als beim Krimi – ein Laie sein.
Die Genregrenzen von Krimis und Thrillern überschneiden sich oft. Löste der klassische Detektiv den Mordfall durch logisches Nachdenken und überführte den Mörder im Kreis der zusammengerufenen Tatverdächtigen, so enthalten Krimis heutzutage meist ein Thriller-Element (Showdown), wenn die ermittelnde Figur dem Täter/der Täterin in der finalen Auseinandersetzung gegenübersteht.
Wo kommt der Thriller her? Hier sind vor allem die englisch sprachigen und skandinavischen Länder führend. Aber auch aus Deutschland kommen sehr gute Thriller. Die Auswahl hier fiel auf frühe und zeitgenössisch Thriller-Autoren/Autorinnen mit dem Fokus auf die Geburtsländer. Eine gesonderte Betrachtung des feministischen Krimis in seiner Art und historischen Entwicklung sowie seiner bekannten Vertreterinnen bleibt aus Platzgründen einem gesonderten Beitrag vorbehalten. Allerdings sind uns ein paar feministische Eigenheiten aufgefallen.
Aus Amerika stammt die Urmutter und Meisterin des psychologischen Thrillers: Patricia Highsmith, die für raffinierte Konstruktion berühmt ist. Ihre stilistische Eleganz und psychologische Tiefe wurden gelobt. Allerdings zeichnete sie zuweilen ein negatives Frauenbild. Ihre literarischen Frauenfiguren können als kalt, neurotisch, untreu oder dumm bezeichnet werden. So will in ‚Der Stümper‘ der sympathische, schwache Walter seine zänkische Frau loswerden. Highsmith steht in der Genre-Tradition ihrer Zeit: Den Frauen wurde eine klar beschränkte Funktion zugewiesen: Schön, böse oder tot.
Auch Ruth Rendall, die unter dem Pseudonym Barbara Vine Thriller schrieb, wird literarisch gerühmt. Ihre Romane setzen sich oft mit vergangenen Ereignissen auseinander, die weitreichende Auswirkungen auf die Protagonisten haben, wobei sie häufig bereits zu Beginn Tat und Täter offenlegt: „Eunice Parchman ermordete die Familie Coverdale, weil sie nicht lesen oder schreiben konnte“ (‚A Judgement in Stone‘, 1977).
Steven King, weltbekannter Autor zahlreicher Thriller und Horror-Romane, nähert sich dem Innenleben seiner Figuren aufs äußerste ohne sie zu zerstören und entwickelt eine beunruhigende Symbolik von Alltagsgegenständen, wie z.B. bei ‚Carrie‘ (1977), ‚Schlaflos‘ (1994), ‚Die Arena‘ (2009), ‚Der Anschlag‘ (2012) oder ,Das Institut‘ (2019).
Die Amerikanerin Karin Slaughter beschreibt mit großem Erfolg detailreich brutalste Handlungen wie z. B. Folterungen der Opfer und Kindesmissbrauch. Ihre Hauptperson ist u.a. die Kinderärztin Sara Linton (‚Belladonna‘ 2001, ‚Zerstört‘ 2007, ‚Die letzte Witwe‘ 2019). Jilliane Hoffmann lässt ihre Staatsanwältin C. J. Townsend in menschliche Abgründe blicken (‚Cupido‘, 2004, ‚Morpheus‘, 2006, ‚Argus‘, 2010, ‚Nemesis‘, 2019) und der FBI-Spezialist Bobby Dees spürt entführten Mädchen nach (‚Mädchenfänger‘ 2010).
Der Australier Michael Robotham schreibt abgründige Psychothriller. In ‚Dein Wille geschehe‘ (2009) geht es um einen mörderischen Menschen-Manipulator. In ‚Schlafmacher‘ (2015) will ein Serientäter vergangenes Unrecht löschen.
Der Brite Steve Watson arbeitete für den Geheimdienst und schreibt psychologisch ausgefeilte Thriller in der Ich-Form und im Präsens. Bekannt ist vor allem sein ,Ich.Darf.Nicht.Schlafen‘ (2011) über Amnesien.
Der Norden mag’s hart – Die Skandinavier
Der Schwede Henning Mankell schuf mit Kurt Wallander einen griesgrämigen, sozial engagierten Kommissar. Bekannte Werke: ,Mörder ohne Gesicht‘ (1991), ‚Die fünfte Frau‘ (1996) und ,Mord im Herbst‘ (2013). Erst nach seinem Tod wurde die Millenium-Trilogie von Stieg Larsson veröffentlicht und er wurde posthum weltberühmt. In ‚Verblendung‘ geraten der Journalist Blomkvist und die Ermittlerin Salander in familiäre Abgründe. Einem Menschenhandel sind sie in ‚Verdammnis‘ auf der Spur und in ,Vergebung‘ muss Blomkvist seine unter Mordverdacht stehende Partnerin retten. Arne Dahl, schwedischer Literaturwissenschaftler, lässt Paul Hjelm und Kerstin Holm von der Stockholmer Polizei in internationalen Fällen ermitteln und global agierendes Verbrechen verfolgen. Liza Marklund wurde bekannt durch den Thriller ‚Olympisches Feuer‘ (1998) und etablierte sich mit ihren Krimis über die Polizei-Reporterin Annika-Bengtzon. Häkan Nesser schuf eine Reihe um den Kommissar Van Veeteren, angesiedelt in einem fiktiven nordeuropäischen Land und der norwegische Autor Jo Nesboe lässt seinen alkoholkranken, alleinstehenden Kommissar Harry Hole in brutalen Mordfällen ermitteln.
Aus Dänemark stammt der Autor Jussi Adler-Olsen. In düsteren Thrillern schickt er den Leiter des Sonderdezernats Q in Kopenhagen und seinen syrischen Assistenten Assad zum Tatort (‚Erbarmen‘, ‚Schändung‘, ‚Erlösung‘). Die Norwegerin Anne Holt, Polizeijuristin und Rechtsanwältin, lässt in ihren Polit-Krimis die Kommissarin Hanne Wilhelmsen ermitteln und setzt sich in ‚Ein kalter Fall‘ (2017) mit islamistischem Terror und den Reaktionen in der Bevölkerung auseinander.
Deutsche Thriller-Autoren/innen
Sebastian Fitzeks Psychothriller spielen in Berlin und handeln oft von psychisch gestörten Menschen, die anderen grausame Dinge antun, wobei er jeweils eine neue Ausgangslage entwickelt. 2006 erschien ‚Die Therapie‘, es folgten u.a. ‚Passagier 23‘(2014), ‚Der Insasse‘ (2018), ‚Das Geschenk‘ (2019). Weitere bekannte deutsche Thriller-AutorInnen sind u.a. Arno Strobel (‚Der Trakt‘, Frau erwacht aus Koma, 2010) und Max Bentow (‚Federmann‘, ein Killer platziert Vögel auf seinen Opfern, 2011). Als Polit-Thriller-Autoren bekannt sind z.B. Andreas Pflüger, der in ‚Operation Rubikon‘ über organisierte Kriminalität schreibt und Andreas Eschbach mit seinem ‚NSA-Nationales Sicherheitsamt‘, ein origineller Thriller über das Dritte Reich mit überwachtem Internet. Auch Horst Eckert schreibt Polit-Thriller: ‚Der Preis des Todes‘, Machenschaften eines Staatssekretärs.
Die deutschsprachige Thriller-Landschaft wird aber auch von etlichen Autorinnen geprägt. Gudrun Lerchbaum, eine Mörderische Schwester, schrieb in ‚Lügenland‘ über den Gewissenskonflikt einerPolizistin in einem diktatorisch regierten Österreich. Der Shooting-Star Melanie Raabe verfasste u.a. einen Psychothriller um einen prophezeiten Mord (‚Der Schatten‘, 2018).
Weitere deutsche Autorinnen mit Nähe zum Thriller sind u.a. Petra Hammesfahr, Elisabeth Herrmann, Gisa Klönne, Charlotte Link und Nele Neuhaus.
Und wer liest die Thriller?
Ja, es stimmt: Gerade die brutalen, blutigen, nervenaufreibenden Fälle ziehen Leserinnen magisch an. Frauen machen 60 – 80 % der Krimi- und Thriller-Kundschaft aus. Und das Gute: Frauen greifen lieber zu Romanen von Autorinnen, vielleicht weil sie es authentischer finden, wenn eine Frau über häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch schreibt. Aber auch Männer können sich in Protagonistinnen hineindenken. So feierte Cody McFadyens Reihe um die traumatisierte FBI-Agentin Smoky Barrett internationale Erfolge. Männer veröffentlichen sogar Krimis unter weiblichem oder gender-neutralem Pseudonym. So schrieb der Brite Martyn Waites gemeinsam mit seiner Ehefrau Thriller um die Profilerin Tania Carver und der amerikanische Autor Todd Ritter veröffentlichte viele seiner Thriller unter dem Pseudonym Riley Sager.
Wer mehr über feministische Kriminalliteratur wissen will: Im nächsten Beitrag geht‘s um den jahrzehntelangen Weg von Autorinnen, sich von frauenfeindlichen Klischees zu verabschieden und Themen wie Sexismus und Diskriminierung anzusprechen.
© Susanne Rüster