Tötungsdelikte bestimmen Fantasie und Arbeitsalltag von Krimi-AutorInnen. Über andere Kapitaldelikte ist weniger bekannt.
Susanne Rüster über die – auch literarisch relevanten – Verbrechen gegen die persönliche (Fortbewegungs)Freiheit und die Psyche.
Ein Kind verschwindet vom Spielplatz. Eine junge Frau tanzt im Club und wacht in einem Verlies auf. Ein Politiker wird von Extremisten gekapert. Eine Unternehmertochter wird Opfer einer Lösegeld-Erpressung.
Krimi-AutorInnen gehen literarisch mit Verbrechen um – meist ist es Mord. Die schriftstellerischen Überlegungen kreisen um ausgefallene Mord-Methoden, bizarre Todes-Umstände, Blick in die Seele von pathologischen Killern. Hier soll es um andere Verbrechen gehen.Auch sietauchen in der Krimi-Literatur häufig auf: Entführung (lt. Strafgesetzbuch § 239b: Erpresserischer Menschenraub)und Geiselnahme (§ 239a StGB). Die Bestandteile dieses Horrorszenarios sind bekannt: KO-Tropfen, Gepäckraumtransporte, abgelegene Verstecke, maskierte Täter, Morddrohungen, tickende Uhren, Lösegeldforderungen.
Wird das Opfer zur gewaltsamen Durchsetzung eines bestimmten Ziels an einen unbekannten Ort gebracht, spricht die Polizei von einer Entführung. Beim Gefangenhalten an einem bekannten Ort liegt eine Geiselnahme vor. Immer geht es um zwei Ziele: Vorrangig soll das Opfer befreit werden, nachrangig, aber ebenfalls mit allem Einsatz betrieben, sollen die Täter festgenommen werden. Die Einschätzung der tatsächlichen Lage ist von außen betrachtet schwierig. Oft weiß die Geisel nicht, an welchen Ort sie verbracht wurde. Und weder Polizei noch Angehörige wissen, wie es dem Opfer geht. Entführung und Geiselnahme gehören für die Polizei zu den taktisch anspruchsvollsten Verbrechen. Verhandeln, und wie lange? Eingehen auf die verbrecherische Forderung? Oder Befreiung der Geisel mit Gewaltanwendung?
Wozu diese theoretischen Überlegungen und Begrifflichkeiten?, denkt AutorIn vielleicht. Ich brauch einen knackigen Showdown: KommissarIn stellt Killer mit dem Messer auf der Kehle des Opfers: „Freier Abzug, sonst spritzt Blut!“ Die klassische Geiselnahme. Ob das Opfer einigermaßen unbeschadet daraus hervorgeht, hängt oft von seiner Nervenkraft ab und der psychologischen Verhandlungsführung durch die Polizei. Ich In den beliebten Privatermittler-Krimis – womit nicht ehemalige Fahnder oder professionelle Detektive gemeint sind, sondern Privatpersonen wie die beste Freundin des Opfers, die Putzfrau, ein Koch, die neugierige Oma etc. – spielt die Polizei eine lästige Nebenrolle und taucht meist erst auf (wenn überhaupt), wenn die toughe Privatermittlerin das Opfer bereits befreit hat. Aber auch derartige realitätsferne Handlungsabläufe schreiben sich mit Kenntnis des klassischen Systems einer Entführung besser. Dieser Beitrag soll sich daher mit den Aufgaben, Tätigkeiten, aber auch Schwierigkeiten und Gefühlen der mit dem Verbrechen befassten Personen – hierzu zählen Täter, Geisel, Polizei, erpresste Angehörige, Berater, möglicherweise Medien – beschäftigen.
Welche Tätertypen gibt es? Was sind ihre Beweggründe?
Welche Menschen sind gefährdet, Opfer einer Entführung zu werden?
Was empfindet die Geisel? Was ihre Angehörigen?
Wie arbeitet ein Vermissten-Kommissariat? Wie werden psychologische Unterhändlergespräche geführt, wie die Lösegeldübergabe abgewickelt?
Wie vollzieht sich eine Stürmung des Tatorts?
Die Abläufe einer Entführung werden im Beitrag nach aufeinander folgenden Abschnitten in zeitlicher, psychologischer, polizeitaktischer Hinsicht verteilt:
- Wahl des Opfers, Observierung, Überfall, Transport in ein Versteck
- Verhandlungsphase
- Übergabe des Lösegeldes/Erfüllung der Forderung
- Freilassung des Opfer und psychologische Folgen
- Entführung/Geiselnahme in Realität und Fiktion.
Im nächsten Teil geht es um den – noch weitgehend unbemerkten – Vorlauf einer Entführung: Entwicklung des Tatplans, Beobachtung der Zielperson, Gefangennahme.