Der Täter, die Täterin vor Gericht
Staatsanwältin (Sta’in) Hanna Kraefft zieht heute eine weiße Bluse an. Die Hauptverhandlung in ‚ihrem‘ Fall steht bevor. Für sie ist, ebenso wie für das Gericht, die Amtstracht eine Pflicht: Schwarze Robe mit Samtbesatz, weiße Bluse oder weißes Tuch. Sie nimmt ihre Handakte, das Strafgesetzbuch (StGB) und die Strafprozessordnung (StPO – im Film mit beschriftetem Rücken zum Betrachter, in Wirklichkeit umgekehrt), und setzt sich an ihr Pult. Angehörige der Opfer betreten den Saal. Eine Frau weint, ein Mann stößt Flüche aus, Anwälte beschwichtigen. Als Nebenkläger*innen können die Angehörigen sich der Anklage anschließen, und so Einfluss auf die Urteilsfindung ausüben und psychische Entlastung finden. Kraefft wirft einen Blick auf die Anwaltsbank ihr gegenüber. Der Strafverteidiger legt seine schwarze Robe mit Seidenbesatz an, darunter weißes Hemd mitweißem Schlips.
Draußen ruft der Wachtmeister: „Prozessbeteiligte und Zuschauer bitte in den Saal.“
Die Hauptverhandlung ist in der Regel öffentlich und das Interesse bei einer Anklage gegen einen Serienmörder*in ist groß (illustriert am Fall Ted Bundy aus Teil 1, der in den Siebzigern in den USA mindestens 30 junge Frauen tötete1)).
„Warum gibt‘s keinen größeren Saal?“, hört Kraefft Stimmen im Flur.
„Schluss hier, mehr Sitzplätze gibt‘s nicht.“
Murren und Schritte, die sich entfernen. Für diesen Prozess ist bereits der größte Saal geöffnet worden. Ein Anspruch auf Einlass besteht nicht. Strafverhandlungen werden auch nicht im Wege einer Videoübertragung übermittelt. Fotografieren und Herstellen von Ton- und Bildaufnahmen sind während der Verhandlung verboten, davor und danach aber erlaubt. Vorn nehmen jetzt die Gerichtsberichterstatter*innen Platz, meist Freiberufler*innen, die für verschiedene Medien arbeiten, und eine oder einer der wenigen Gerichtszeichner*innen.
Die Strafverhandlung beginnt
Der Angeklagte wird von zwei Wachtmeistern aus der Untersuchungshaft vorgeführt, in Handschellen, bei Fluchtgefahr auch mit Fußfesseln. Die beiden Wachtmeister bleiben dicht beim Angeklagten. Er sitzt neben seinem Verteidiger.
Dann betritt das Gericht den Saal durch eine besondere Tür, die zum Beratungszimmer führt. Die Schwurgerichtskammer besteht aus drei (Berufs)richter*innen und zwei Laienrichter*innen (Schöff*innen), letztere sollen das Vertrauen in die Justiz stärken und mithelfen, zu einer lebensnahen Rechtsprechung zu gelangen. Die Schöff*innen haben bei der Urteilsfindung eine den Berufsrichter*innen gleichwertige Stimme.
Kurzer Blick in die USA: Die amerikanische Jury besteht ebenfalls aus juristischen Laien, wird aber von Staatsanwaltschaft und Verteidigung gemeinsam und nach jeweils taktischen Gesichtspunkten ausgewählt. Die Geschworenen entscheiden – einstimmig – über die Schuld oder Unschuld des oder der Angeklagten.
Das Gericht erscheint und alle im Saal stehen auf. „Bitte nehmen sie Platz“, sagt der Vorsitzende. Nun beginnt die Strafverhandlung, deren Ablauf in der StPO genau vorgeschrieben ist (Gerichtsjargon: ‚Spielregeln‘) 2).
Sta’in Kraefft fühlt ihr Herz schlagen. Die Hauptverhandlung ist das Kernstück jeden Strafverfahrens, in dem der gesamte Fall neu aufgerollt wird. Jetzt wird sich zeigen, ob ihre Anklage das Gericht überzeugen kann, dass hier ein Massenmörder steht.
„Sie sind Herr … (Name)?“, fragt der Vorsitzende, um festzustellen, ob er den richtigen Angeklagten vor sich hat. Zu den persönlichen Verhältnissen (Name, Alter, Adresse, Geburtsort, Beruf, Familienstand) gibt es kein Aussageverweigerungsrecht.
Die Anklage wird verlesen
Hanna räuspert sich leise, gleich werden alle Augen auf ihr ruhen. Sie steht auf und erhebt den Anklagevorwurf:
„Der (Name) wird angeklagt, aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, heimtückisch und grausam (Anzahl) Menschen getötet zu haben.
Dem Angeklagten wird folgendes zur Last gelegt: Er bat seine Opfer, die er nach einem bestimmten optischen Merkmal – dunkles, in der Mitte gescheiteltes Haar – ausgewählt hatte, um Hilfe beim Einladen seiner Einkäufe, wofür er eine Armverletzung vortäuschte. Sobald das Opfer sich über den Kofferraum beugte, stieß er es hinein, verschloss den Deckel, fuhr mit ihm an einen vorher ausgekundschafteten Platz. Dort tötete er – seinem vorher gefassten Plan folgend – das Opfer mit Einsatz eines Schlagwerkzeugs oder durch Erwürgen und verging sich dann an dem Leichnam. Verbrechen, strafbar gemäß §§ 211, 53 StGB“ 3).
Sta’in Kraefft setzt sich. Ihre Funktion als Vertreterin der Anklage hat sie erstmal wahrgenommen.
Auftritt der US-Staatsanwältin
In den USA entscheidet die Grand Jury über die Anklage. Die Staatsanwältin ist nicht zur Objektivität verpflichtet, kann belastende Zeugenaussagen oder Untersuchungen vorlegen, entlastendes Material zurückhalten, und so die Entscheidung der Grand Jury beeinflussen. Ein amerikanisches Bonmot sagt, dass ‚ein guter Staatsanwalt auch ein Schinkenbrötchen zur Anklage bringen kann‘. Die Karriere der amerikanischen Staatsanwältin hängt oft davon ab, wie viele Verurteilungen sie erzielt. Ihr Auftritt könnte so beginnen:
Hohes Gericht, verehrte Geschworene, stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter, 21 Jahre alt, gesund, intelligent, hübsch, nett, fleißig. Ihr dunkles Haar trägt sie adrett in der Mitte gescheitelt. Sie studiert erfolgreich an einer renommierten Universität. Sie hat nur einen Nachteil: Sie ist hilfsbereit. Das wird ihr zum tödlichen Verhängnis. Sie kommt der Bitte um Hilfe beim Einladen der Einkäufe durch einen freundlichen jungen Mann mit Arm in der Schlinge nach.‘ Staatsanwältin spaziert vor der Jury auf und ab und blickt jedem der Geschworenen in die Augen, dann mit erhobener Stimme: ‚Dieser Hilfsdienst ist der letzte freie Moment, den Ihre Tochter erlebt. Dann stößt der Mann mit dem angeblich verletzten Arm sie von hinten in den Kofferraum, wirft den Deckel zu und fährt mit ihr an einen vorher ausgekundschafteten entlegenen Ort.
Einige Mitglieder der Jury haben schon Tränen in den Augen4).
Wird der Angeklagte (Beispiel Ted Bundy) des Mordes überführt?
Zurück in Deutschland. Der Vorsitzende fragt den Angeklagten, ob er sich zur Anklage äußern will 5). Spricht der Angeklagte, darf seine Aussage auch gegen ihn gewürdigt werden. Sein Schweigen darf aber nicht als Schuldeingeständnis gewertet werden, sondern ist neutral.
Es folgt die Beweisaufnahme 6). Der gesamte Fall wird mündlich verhandelt. Der Vorsitzende Richter vernimmt zunächst die Polizeibeamt*innen, die an der Überführung des Täters mitgewirkt haben. Als Zeug*innen in Betracht kommen auch überlebende Opfer und Personen, die sachdienliche Hinweise machen können. Hat der Vorsitzende keine Fragen mehr, sind die beisitzenden Richter*innen (Berufsrichter*innen und Schöff*innen) an der Reihe. Sta‘in Kraefft überlegt, ob sie selbst noch etwas von den Zeug*innen wissen möchte. Da sie enger als das Gericht mit der Polizei gearbeitet hat, kann sie wichtige Details hervorheben.
„Weshalb können Sie sich so genau an einen alltäglichen Vorfall wie Einkaufen erinnern?“, fragt Kraefft einen Augenzeugen, der beobachtet hat wie eins der Opfer einem Mann mit Arm in der Schlinge beim Einladen der Einkäufe ins Auto half (Masche des Ted Bundy).
„Ich hatte mir auch mal den Arm gebrochen. Ich fand es nett, dass die Frau dem verletzten Mann geholfen hat.“
Zeuge schildert glaubhaft die besondere Masche des Angeklagten, notiert sich Kraefft. Und dann stellt sie eine wichtige Frage: „Erkennen Sie den Angeklagten hier wieder als den Mann mit Arm in der Schlinge?“
Alle Augen im Saal sind jetzt auf den Zeugen gerichtet, der sich den Schweiß vom Gesicht wischt. Er blickt zum Angeklagten, obwohl er ihn bereits mehrfach gemustert hat, räuspert sich und sagt dann: „Ja, es ist derselbe Mann.“
Kraefft notiert zufrieden diese Aussage, und auch die Richter tun das.
Der Angeklagte schüttelt den Kopf.
Sein Anwalt springt auf: „Der Zeuge ist über siebzig, trägt eine Brille, und die Entfernung betrug etliche Meter. Vielleicht war‘s auch schon dunkel. Oder der Zeuge will nicht eingestehen, dass er unsicher ist.“
„Herr Verteidiger, keine Mutmaßungen“, sagt der Vorsitzende. „Warten Sie bitte, bis Sie dran sind.“
Die Nebenkläger*innen mit ihren Anwält*innen sind nun an der Reihe mit ihren Fragen, anschließend die Sachverständigen (Forensiker*in, Psycholog*in, Psychiater*in) und zum Schluss der Angeklagte und sein Verteidiger7).
Kreuzverhör in den USA
Dort geht es äußerst konfrontativ zu: In einem emotionalen Kreuzverhör, das dazu dient, die Glaubwürdigkeit der gegnerischen Zeug*innen zu erschüttern, zielen Staatsanwaltschaft und Verteidigung allein auf die Gefühle der Geschworenen ab, nicht auf die des Richters, der Richterin. Das Kreuzverhör gewinnt, wer die Jury mit einem mitreißenden Plädoyer auf die eigene Seite bringt. Amerikanische Jura-Student*innen werden in ihren rhetorischen Fähigkeiten für diese Aufgabe geschult.
Auch die deutsche StPO regelt ein Kreuzverhör 8), bei dem das Gericht der Staatsanwaltschaft und Verteidigung die Vernehmung der Zeug*innen und Sachverständigen überlässt. Es hat aber aufgrund der umfassenden Fragerechte aller Beteiligter fast keine praktische Bedeutung.
Dem Mörder auf der DNA-Spur
Dank ausgefeilter DNA-Technik wird sich die Beweisaufnahme nicht lange ausdehnen. Wird ein Mordopfer gefunden, können Anhaftungen wie Speichel, Schweiß an der Kleidung oder Blut- und Hautpartikel unter den Nägeln, weil das Opfer sich gewehrt hat, den Täter, die Täterin auch nach Jahren, manchmal sogar nach Jahrzehnten noch überführen. Das gesicherte Profil wird in einer Gendatenbank erfasst, die mittlerweile Daten im sechsstelligen Bereich enthält. Moderne Computer können aus dieser Masse an Informationen schnell Ergebnisse herausfiltern. Die aus diesen Spuren gewonnene menschliche Erbsubstanz lässt sich eindeutig einem Menschen zuordnen9). Ted Bundy müsste vor den Fortschritten der Kriminaltechnik zittern. Er könnte sich heutzutage nur der Strafe entziehen, wenn man ihn nicht zu fassen bekäme. Ist er aber festgenommen, braucht er sich zwar nicht selbst zu belasten, muss also die Taten nicht gestehen, er muss jedoch die Abnahme seiner DNA dulden. Findet man diese an den Opfern oder in deren Nähe, ist der Schluss auf die Tatbegehung klar10). Der oder die psychiatrische Sachverständige würde das Gutachten vorrangig zu der Frage erstatten, ob der oder die Angeklagte bei Begehung der Tat schuldfähig, vermindert schuldfähig oder schuldunfähig gewesen ist. War er oder sie schuldfähig, wird er – im Fall des Mordes – zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt11) (Haftanstalt), war er oder sie schuldunfähig, ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an12).
Der aufregende Augenblick
„Frau Staatsanwältin, Ihr Plädoyer bitte“, sagt der Vorsitzende.
Hanna Kraefft ist als Erste dran. Und sie ist allein. Sie steht auf, wirft einen Blick rundum und beginnt, ihren Eindruck von der Hauptverhandlung möglichst frei vorzutragen:
„Hohes Gericht, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat sich der Angeklagte des Mordes in (Anzahl) Fällen schuldig gemacht.“
Nach diesem Einleitungssatz führt sie aus, wie der Sachverhalt sich ihrer Überzeugung nach ereignet hat.
„Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen (Name) steht fest, dass der Angeklagte am (Datum) die Studentin (Name) gebeten hat, ihm beim Einladen seiner Einkäufe in den Kofferraum seines PKW zu helfen. Hierbei hielt der Angeklagte den Arm in der Schlinge und täuschte einen Bruch vor. Die Zeugin kam seiner Bitte um Hilfe nach …“, usw.usw.
Jetzt führt Kraefft aus, weshalb sie dem Zeugen glaubt:
„Er hatte selbst einen Armbruch erlitten und wusste daher um die Hilflosigkeit beim Einkaufen. Daher schenkte er diesem alltäglichen Geschehen mehr Aufmerksamkeit und freute sich über die Hilfsbereitschaft der jungen Frau.“
Kraefft holt Luft, denn jetzt kommt der für sie entscheidende Teil:
„Der Zeuge hat den Angeklagten hier eindeutig als den Mann mit Arm in der Schlinge wiedererkannt. Da sich der Zeuge dann seinem eigenen PKW zuwandte, konnte er nicht mehr sehen, wie der Angeklagte die Frau von hinten packte und in den Kofferraum stieß.“ Kraefft führt jetzt aus, weshalb sie dem oder der psychiatrischen Sachverständigen folgt und den Angeklagten für schuldfähig hält.
Dann stellt sie ihren Strafantrag: „Ich beantrage, den Angeklagten wegen Mordes in (Anzahl) Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen.“
Geschafft. Hanna setzt sich und fühlt ihr Herz schlagen.
USA und Hollywood & Co.
Ein Blick auf die amerikanische Staatsanwältin. Ihr Schlussplädoyer ähnelt oft einer theatralischen Darbietung. Sie will die zwölf Geschworenen, die über Schuld oder Unschuld des oder der Angeklagten entscheiden, auf ihre Seite ziehen. Die Kompetenzen des US-Richters, der US-Richterin sind wesentlich geringer als die des deutschen Strafrichters, der Strafrichterin, der oder die Beweise unabhängig von der Meinung von Staatsanwaltschaft und Verteidigung würdigt. Der US-Richter, die US-Richterin entscheidet dagegen lediglich über die Höhe der Strafe, die Zulassung von Anträgen (‚abgelehnt‘ oder ‚stattgegeben‘) und erläutert den Geschworenen ihre Pflichten. Er ist daran gebunden, wenn die Jury ‚schuldig‘ entscheidet, selbst wenn er den Angeklagten, die Angeklagte für unschuldig hält.
Die US-amerikanische Staatsanwältin in Aktion: Was ich Ihnen jetzt sagen muss, ist unglaublich grauenhaft: Der Angeklagte schlägt mit einem Werkzeug auf die junge Frau ein bis sie bewusstlos ist und erwürgt sie dann mit seinen Händen. Ist sie qualvoll gestorben, vergeht er sich an ihrem Leichnam. Manche Leichen hat er sogar mit eigens dafür mitgebrachten Sachen geschminkt und umgekleidet. Dann verscharrt er die Leiche. Einige Mitglieder der Jury starren schockiert und voller Ekel auf den Angeklagten in seiner orangen Häftlingsuniform, der in einem abgetrennten Kasten sitzt, neben ihm zwei schwer bewaffnete Polizisten. Andere Geschworene schütteln den gesenkten Kopf. Die Staatsanwältin schätzt nach ihrer Erfahrung ein, ob sie an Härte und Eindringlichkeit zulegen muss. Wahrscheinlich werden Sie alle nie wieder einem freundlichen Unbekannten helfen. Trotzdem kann ich Ihnen die Einzelheiten dieser unvorstellbar brutalen Morde nicht vorenthalten.
Jetzt kommen die für die Geschworenen kaum erträglichen Details...
Deutschland
Theatralische Einlagen im Strafprozess, Gefühlsausbrüche, heftige Dialoge zwischen Beteiligten, Zwischenrufe aus dem Publikum duldet kein Richter, keine Richterin. Er oder sie kann einen Störer*in aus dem Saal entfernen lassen und Ordnungsgeld und -haft anordnen. Allenfalls lässt sich ein Schöffe, eine Schöffin von unsachlichen Äußerungen beeinflussen, der oder die in der Beratung mit den übrigen Mitgliedern der Schwurgerichtskammer seine oder ihre Meinung überprüfen kann. Da bereits Kripo und Staatsanwaltschaft den Sachverhalt ermittelt haben, und das Gericht im Zwischenverfahren nochmals die Beweislage prüft13), kommt es kaum vor, dass ein wichtiger Beweis übersehen wird. Äußerst selten kommt es während der Hauptverhandlung zu einer – in Justizfilmen und -shows beliebten – dramatischen Wende (‚plot-twist‘), etwa weil der oder die Falsche vor Gericht steht und plötzlich ein Zeuge, eine Zeugin auftaucht, der den wahren Täter, die Täterin kennt. Beliebt nach amerikanischem Vorbild sind auch Detektive der Verteidigung, die neue Beweise vorlegen, die Kripo und Staatsanwaltschaft angeblich übersehen haben14).
Nach den Plädoyers von Sta’in Kraefft, den Nebenkläger*innen und der Strafverteidigung hat der Angeklagten das letzte Wort15). Auch hier gilt: Er kann sprechen, er kann schweigen.
Jetzt zieht sich das Gericht zur Beratung in seinen besonderen Raum zurück. Es muss die Entscheidung treffen, ob der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Morde begangen hat. Das deutsche Strafrecht kennt keine Jury, die über die Schuldfrage entscheidet. Für die Feststellung der Schuld ist eine Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen erforderlich16). Bei der 5-er-Besetzung der Schwurgerichtskammer sind das also mindestens 4 Stimmen. Die Abstimmung erfolgt nach der Reihenfolge: Schöff*innen (der, die Jüngere zuerst), dann beisitzende Richter*innen (der, die ‚Dienstjüngere‘ zuerst, ist ein Berichterstatter, eine Berichterstatterin bestellt, dann er oder sie zuerst), zuletzt stimmt der, die Vorsitzende 17).
Hat das Gericht sein Urteil beschlossen, tritt es wieder in den Saal. Alle erheben sich. Dann wird das Urteil Im Namen des Volkes verkündet. Der Vorsitzende verliest die Urteilsformel:
„Der Angeklagte (Name) wird wegen Mordes an (Anzahl) Menschen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.“
Anschließend (alle sitzen wieder) begründet der Vorsitzende die wesentlichen Gründe der Entscheidung18).
Die Hauptverhandlung ist beendet. Alle im Saal packen ihre Sachen. Der Angeklagte wird wieder in die Untersuchungshaft abgeführt. Die Verteidigung wird überlegen, ob sie ein Rechtsmittel (Revision zum Bundesgerichtshof) einlegen sollte.
Hanna Kraefft geht zu ihrem Zimmer, wirft ihre Robe und ihr Gesetzbuch von sich und hat das dringende Bedürfnis nach frischer Luft. Wie eine andere Welt fühlt sich draußen das Leben an. Autos, Fahrräder, Kinderwagen, Menschen mit Einkäufen, alle erledigen ihre Angelegenheiten in Freiheit. Hanna hat gemischte Gefühle. Sie ist erschöpft und bedrückt, zu nah sind noch die grausamen Details in den Berichten der Rechtsmedizin, Forensik und Psychiatrie. Zugleich fühlt Hanna Erleichterung, dass sie ihre bisher größte Anklage gemeistert hat, dass ein Mörder bestraft wird und keine abscheulichen Verbrechen mehr begehen kann.
- Wer die Einzelheiten lesen mag: https://www.true-crime-story.de/ted-bundy-utah-1976/
- Zum Gang der Hauptverhandlung § 243 StPO.
- Einzelheiten der polizeilichen Ermittlungen und die Gutachten werden nicht verlesen, sondern im wesentlichen Ermittlungsergebnis der Anklage dargestellt, das dem Angeklagten und seinem Verteidiger bekannt ist.
- Wer sich für das US-amerikanische Strafverfahren interessiert: Die zwölf Geschworenen (12 Angry Men), eindrucksvoller Spielfilm aus 1957 mit Henry Fonda, der als einer der Geschworenen in einem gruppendynamischen Prozess die Entscheidung der Jury kippt.
- § 243 Abs. 5 StPO.
- § 244 StPO.
- § 240 StPO.
- § 239 StPO.
- Wer mehr wissen möchte: D.P.Lyle, ‚CSI-Forensik für Dummies‘, 2009, S. 275 ff.; John D. Wrig ‚Dem Täter auf der Spur‘, Parragon Books, S. 76 ff.; Göran Schattauer,Focus-Online-Report,‚Für Auswertung ist es nie zu spät‘, https://www.focus.de/politik/sicherheitsreport/fuer-auswertung-ist-es-nie-zu-spaet-moerder-muessen-weiter-zittern-dna-spuren-auch-nach-55-jahren-lagerung-noch-lesbar_id_11228805.html
- Im Fall Ted Bundys brauchte es mehrere Strafverfahren, da er aus dem Gefängnis floh und weiter mordete. 1989 wurde er auf dem elektrischen Stuhl in Florida hingerichtet.
- § 211 Abs. 1 Strafgesetzbuch. Lebenslange Freiheitsstrafe bedeutet Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit. Nach frühestens 15 Haftjahren kann die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden, die Bewährungszeit beträgt 5 Jahre (§ 57a StGB). Mehrere lebenslangen Freiheitsstrafen wegen mehrerer Morde werden nicht addiert, selbst ein Serienmörder wird nur zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Im Urteil wird dann eine besondere Schwere der Schuld festgestellt. Das Gericht prüft nach 15 Jahren, wie viel Strafe unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit wegen der besonders schweren Schuld noch verbüßt werden muss, bis der Verurteilte auf Bewährung entlassen werden kann.
- § 63Strafgesetzbuch (StGB): Bei Schuldunfähigkeit (§ 20) oder verminderter Schuldfähigkeit (§ 21) ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist.
- In deutschen Gerichtsshows Anfang der Zweitausender Jahre (‚Richter Alexander Hold‘ und ‚Richterin Barbara Salesch‘) wurden Strafrechtsfälle nachgestellt. Die Richter, oft auch Staatsanwälte und Verteidiger, waren echte Juristen, gleichwohl haben die Gerichtsshows mit dem deutschen Strafprozess wenig zu tun. Dank der Dramaturgie – oft nach us-amerikanischem Vorbild – denken manche Zuschauer, dass Gerichtsverhandlungen hoch emotional seien und sich der Sachverhalt nur durch überraschende Wendungen aufklären lasse.
- §§ 199, 203 StPO.
- § 258 StPO.
- § 263 StPO.
- § 167 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG).
- § 268 StPO.